(35) Giovanni Boccaccio »Die Urform der Ringparabel«

    vom

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    Daß Klugheit uns retten kann,
    will ich euch in einer kurzen Erzählung zeigen.
    Saladin, dessen Tapferkeit so groß war,
    daß sie ihn nicht nur aus einem unbedeutenden Manne
    zum Sultan von Babylon machte,
    sondern ihm auch zu zahlreichen Siegen
    über sarazenische und christliche Könige verhalf,
    hatte in verschiedenen Kriegen
    und infolge seiner Prunksucht seinen ganzen Schatz verschwendet;
    da er nun aber aus irgendeinem Anlaß eine große Summe Geldes brauchte
    und gar nicht wußte, wo er sie in der Eile hernehmen sollte,
    fiel ihm ein reicher Jude namens Melchisedek ein,
    ein Geldverleiher in Alessandrien, der ihm wohl helfen konnte,
    wenn er wollte;
    doch war der so geizig,
    daß er aus freien Stücken es wohl nicht tun würde,
    und Gewalt wollte er nicht gern anwenden.

    Da jedoch die Not ihn drängte, bemühte er sich,
    ein Mittel zu finden, um den Juden gefügig zu machen
    und kam auf den Einfall,
    ihn doch unter irgendeinem Vorwande zu zwingen.
    Er ließ ihn also zu sich rufen,
    begrüßte ihn sehr freundschaftlich,
    nötigte ihn zum Sitzen und sagte:

    „Guter Freund, ich habe von vielen Leuten gehört,
    daß du ein sehr kluger Mann bist
    und in göttlichen Dingen einen sehr großen Scharfsinn besitzt.
    Deshalb möchte ich gern von dir wissen,
    welche von den drei Religionen du für die wahre hältst;
    die jüdische, die sarazenische oder die christliche?“

    Der Jude, der ein wirklich kluger Mann war, erriet sofort,
    daß Saladin nur darauf ausging, ihn in seinen Worten zu fangen,
    um irgendeinen Streit mit ihm heraufzubeschwören, und erkannte,
    daß er keine der drei Religionen mehr loben dürfte als die beiden anderen,
    damit Saladin seine Absicht nicht erreiche.
    Da er nun eine Antwort finden mußte, die ihm keine Schlinge legte,
    bot er seinen Scharfsinn auf und sagte:

    „Herr, Eure Frage ist trefflich, aber wenn ich Euch sagen soll,
    wie ich über diese Dinge denke, muß ich Euch eine Geschichte erzählen.
    Oftmals habe ich, wenn ich nicht irre,
    von einem vornehmen, reichen Manne gehört,
    der unter anderen Kleinodien in seinem Schatz
    auch einen sehr schönen und wertvollen Ring besaß,
    den er wegen seiner Kostbarkeit und Schönheit gern in Ehren halten
    und auf ewig im Besitze seiner Nachkommen wissen wollte;

    deshalb ordnete er an, daß derjenige unter seinen Söhnen,
    dem er diesen Ring hinterlassen würde, gleichzeitig auch sein Erbe
    und von den andern als der erste geehrt und geachtet werden sollte.

    Sein Sohn, dem dieser Ring zufiel, machte es bei seinem Tode ebenso,
    und so ging dieser Ring von Hand zu Hand, viele Generationen hindurch.

    Schließlich aber kam er in die Hand eines Mannes,
    der drei schöne, tugendhafte und gehorsame Söhne hatte,
    die er alle drei gleich liebte.

    Und jeder der Jünglinge bat,
    da er die Wirkungen des Ringes kannte und danach trachtete,
    den Vorrang zu bekommen, den Vater, der schon alt war,
    bei seinem Tode ihm den Ring zu hinterlassen.
    Der wackere Mann, der sie alle drei in gleichem Maße liebte
    und selber nicht wußte, wen er zu seinem Erben machen sollte,
    sann darauf, alle drei zufriedenzustellen,
    da er einem jeden den Ring versprochen hatte.

    Er ließ deshalb von einem geschickten Meister zwei andere Ringe machen,
    die dem ersten so ähnlich waren,
    daß der Besitzer des Ringes kaum den echten herausfinden konnte.

    Als er seinen Tod nahen fühlte,
    gab er jedem seiner Söhne heimlich einen Ring.
    Nachdem nun der Vater gestorben war,
    machten alle drei Anspruch auf das Erbe
    und den Vorrang und legten zum Zeichen ihrer Berechtigung den Ring vor.

    Da aber sah man, daß die Ringe einander so ähnlich waren,
    daß man den echten nicht mehr herausfinden konnte:
    daher blieb die Frage, wer der wahre Erbe des Vaters sei,
    unentschieden und ist noch heute ungelöst.

    Und das gleiche erwidere ich auch, gnädiger Herr,
    auf die Frage nach den drei Religionen,
    die von Gott dem Vater den drei Völkern gegeben sind.
    Jeder glaubt die Erbschaft des Vaters
    und die wahren Gebote in seinem Besitz zu haben,
    wer sie aber in Wahrheit sein eigen nennt,
    ist, wie bei den Ringen, noch unentschieden.“

    Saladin erkannte, wie geschickt der Jude der Schlinge ausgewichen war,
    die er ihm hatte legen wollen.
    Er beschloß deshalb, ihm sein Anliegen offen vorzutragen
    und ihn zu fragen, ob er ihm dienlich sein wolle.

    Zugleich aber erzählte er ihm, was ihm widerfahren wäre,
    wenn er eine weniger kiuge Antwort gegeben hätte.
    Der Jude stellte ihm freiwillig jede gewünschte Summe zur Verfügung,
    und Saladin zahlte ihm später alles zurück.
    Außerdem aber machte er ihm große Geschenke,
    erhob ihn zu hohen Ehren und blieb sein Freund, solange er lebte.

    Bild: Saldin aus dem 15. Jahrhundert
    Übersetzer: Christian Friedrich Voß
    Lesung: Elisa Demonkí
    Musik: Ulrike Theusner

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