(43) Johann Wolfgang von Goethe »Wilhelm Meisters Lehrjahre«

    vom

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    Achtzehntes Kapitel

    Er war,
    man darf sagen,
    auf dem Theater geboren und gesäugt. (…)

    Leider mußte er den Beifall,
    den er an glänzenden Abenden erhielt,
    in den Zwischenzeiten sehr teuer bezahlen.

    Sein Vater, überzeugt,
    daß nur durch Schläge
    die Aufmerksamkeit der Kinder erregt
    und festgehalten werden könne,
    prügelte ihn beim Einstudieren
    einer jeden Rolle zu abgemessenen Zeiten;

    nicht, weil das Kind ungeschickt war,
    sondern damit es sich desto gewisser
    und anhaltender geschickt zeigen möge.

    (…) Er wuchs heran
    und zeigte außerordentliche Fähigkeiten
    des Geistes
    und Fertigkeiten des Körpers

    und dabei eine große Biegsamkeit
    sowohl in seiner Vorstellungsart
    als in Handlungen und Gebärden.

    Seine Nachahmungsgabe überstieg allen Glauben.

    Schon als Knabe ahmte er Personen nach,
    so daß man sie zu sehen glaubte,
    ob sie ihm schon an Gestalt,
    Alter und Wesen völlig unähnlich
    und untereinander verschieden waren.
    Dabei fehlte es ihm nicht an der Gabe,
    sich in die Welt zu schicken,
    und sobald er sich einigermaßen seiner Kräfte bewußt war,
    fand er nichts natürlicher, als seinem Vater zu entfliehen,
    der, wie die Vernunft des Knaben zunahm
    und seine Geschicklichkeit sich vermehrte,
    ihnen noch durch harte Begegnung nachzuhelfen für nötig fand.

    Wie glücklich fühlte sich der lose Knabe nun in der freien Welt,
    da ihm seine Eulenspiegelspossen
    überall eine gute Aufnahme verschafften.

    (…) Er schien hingerissen und lauerte auf den Effekt,
    und sein größter Stolz war,
    die Menschen stufenweise in Bewegung zu setzen.

    (…) Dabei aber war seine Selbstigkeit äußerst beleidigt,
    wenn er nicht jedem gefiel
    und wenn er nicht überall Beifall erregte.

    Wie dieser zu erlangen sei,
    darauf hatte er nach und nach so genau achtgegeben
    und hatte seinen Sinn so geschärft,
    daß er nicht allein bei seinen Darstellungen,
    sondern auch im gemeinen Leben
    nicht mehr anders als schmeicheln konnte.

    Und so arbeitete seine Gemütsart,
    sein Talent und seine Lebensart
    dergestalt wechselsweise gegeneinander,
    daß er sich unvermerkt
    zu einem vollkommnen Schauspieler ausgebildet sah.

    Ja, durch eine seltsam scheinende,
    aber ganz natürliche Wirkung
    und Gegenwirkung stieg durch Einsicht und Übung
    seine Rezitation, Deklamation und sein Gebärdenspiel

    zu einer hohen Stufe von Wahrheit, Freiheit und Offenheit,

    indem er im Leben und Umgang
    immer heimlicher, künstlicher,

    ja verstellt und ängstlich zu werden schien.


    Bild: Ulrike Theusner „Me As Michael“ – 2008

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